Wann ist Agilität im Lernfeld sinnvoll? Zwischen blauen und roten Problemen. Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Lernfelderunterricht
- Sven Averkamp
- 16. Mai 2024
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Mai 2024
Als wir begannen, Agilität in unseren Unterricht zu integrieren, stellten wir fest, dass eine differenzierte Betrachtung der Lernfelder entscheidend war, um geeignete agile Vorgehensweisen auszuwählen. Ähnlich wie in einem Unternehmen, wo man die roten und blauen Probleme identifiziert, mussten wir genau untersuchen, welche Lernfelder eher von roten oder blauen Problemstellungen geprägt sind. Um zu vermeiden, dass Agilität kein Selbstzweck ist
(Stichwort Obstkorbmentalität), ist diese Unterscheidung elementar.
Oliver Schaper (Agile Coach bei der HEC GmbH | ein Team Neusta Unternehmen) gab uns mit der Cynefin-Matrix eine nützliche Strukturierungshilfe, um zu entscheiden, wann man eher traditionelle Prozesse (blaue Probleme) oder ein agiles Vorgehen (rote Probleme) in einer Organisation / Lernfeldern einsetzen sollte.
Exkurs: Die Cynefin-Matrix
Die Cynefin-Matrix unterscheidet folgende Probleme :
1. Einfache Probleme (blau): Für einfache Probleme, bei denen die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung bekannt und vorhersehbar ist, eignen sich Prozesse am besten. Diese „blauen“ Probleme können mit standardisierten Verfahren und Best Practices effizient gelöst werden. Beispiele hierfür sind routinemäßige Aufgaben und gut verstandene operative Prozesse.
2. Komplizierte Probleme (blau): Bei komplizierten Problemen, die Expertenwissen und detaillierte Analysen erfordern, können ebenfalls Prozesse angewandt werden (blau). Hier geht es darum, die beste Lösung zu finden, indem man auf Fachwissen und bewährte Methoden zurückgreift. Der Prozess ist zwar weniger rigide als bei einfachen Problemen, bleibt aber gut strukturiert und planbar.
3. Komplexe Probleme (rot): Hier sind agile Vorgehensweisen ideal, weil die Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung unklar sind und sich oft erst im Nachhinein erschließen lassen. Agile, flexible und adaptive Ansätze ermöglichen es, durch Experimentieren und schnelles Feedback zu lernen. In diesem Bereich sind iterative Entwicklungsprozesse und das Eingehen auf sich ändernde Anforderungen besonders wichtig.
4. Chaotische Probleme (rot): In chaotischen Kontexten, in denen schnelles Handeln erforderlich ist und keine klaren Ursache-Wirkungs-Beziehungen vorliegen, sind ebenfalls agile Vorgehensweisen gefragt. Hier ist es wichtig, schnell zu handeln, um Stabilität zu schaffen, und dann zu bewerten, wie man am besten weiter vorgeht.
Durch die Verbindung von Cynefin mit den Konzepten der blauen und roten Probleme lassen sich unsere Entscheidungen über das Management und die Strukturierung der Lernfelder fundierter treffen. In Lernfeldern, die von komplexen Problemen geprägt waren, wie beispielsweise die Lernfelder 1 und 2, gingen die Schüler:innen agil vor (Scrum/Design Thinking -> siehe vergangene Blogeinträge).
In den Lernfeldern 3 (Verkauf) und 4 (Einkauf), die klar dem „blauen“ Bereich zuzuordnen waren, ging es vor allem darum, bestimmte Prozessschritte zu verstehen und operativ anzuwenden. Folglich verzichteten wir hier auf einen agilen Ansatz, ohne dabei aber Retrospektiven für den Lernprozess zu eliminieren.
Vorgehen in blauen Lernfeldern. Beispiel aus dem Lernfeld 4: Meilensteine für einfache und komplizierte Problemstellung
Im Rahmen des Lernfelds 4, das sich mit dem Einkaufsprozess befasst, haben wir ein didaktisches Konzept entwickelt, das auf Meilensteinen basiert, die jeweils eine vollständige Handlung abbilden. So ist beispielsweise ein Meilenstein im Lernfeld 4 so gestaltet, dass dieser die Schüler:innen schrittweise durch den kompletten Beschaffungsprozess führt. Durch Anwendung des Fachwissens sollen die Schüler:innen die für sie beste Lösung erarbeiten. Wichtig ist es uns dabei, den Schüler:innen eine realitätsnahe Erfahrung zu bieten und gleichzeitig die erforderlichen theoretischen Inhalte praktisch anzuwenden.
1. Bedarfsermittlung: Zuerst ermitteln die Schüler:innen die benötigte Menge der Produkte, die für ihr fiktives Unternehmen eingekauft werden sollen. Hierbei lernen sie, wie man Bedarf auf Grundlage von Verbrauchsdaten und Prognosen bestimmt.
2. Bezugsquellenermittlung: Anschließend identifizieren die Schüler:innen potenzielle Lieferanten. Dieser Schritt schließt die Recherche nach geeigneten Anbietern ein und erfordert eine Analyse der Marktsituation.
3. Angebotsvergleich: Die Schüler:innen führen einen qualitativen und quantitativen Vergleich der Angebote durch. Dieser Prozess hilft ihnen, Entscheidungen basierend auf verschiedenen Kriterien wie Preis, Qualität, Lieferbedingungen und Serviceangeboten zu treffen. Die Auswahl der Lieferanten und die Gewichtung der Vergleichskriterien sind dabei bewusst offen gelassen, um die Entscheidungsfindung und kritische Auseinandersetzung zu fördern.
4. Bestellung: Nach der Auswahl des besten Angebots bearbeiten die Schüler:innen den Bestellvorgang. Hierbei setzen sie ihr Verständnis von Vertragsbedingungen und Einkaufsrichtlinien praktisch um.
5. ERP-System Nutzung: Ein wesentlicher Bestandteil des Lernfelds ist der Umgang mit dem ERP-System Microsoft Dynamics Navision. Die Schüler:innen nutzen das System, um den Beschaffungsprozess zu bearbeiten, was den Realitätsbezug des Meilensteins unterstreicht und ihnen praktische Kenntnisse vermittelt.

Bild: ERP-System Microsoft Dynamics NAV (Mandant jeweils das eigene Modellunternehmen)
6. Reflexion und Fachgespräch: Am Ende des Prozesses präsentieren die Schüler:innen ihre Entscheidungswege und die Begründung ihres Vorgehens in einem Fachgespräch. Dabei müssen sie die Theorie aus dem Lernfeld 4 anwenden und ihre Entscheidungen kritisch reflektieren.
Durch dieses Vorgehen, der die Anwendung von Theorie in praktischen, realistischen Szenarien kombiniert, bereiten wir die Schüler:innen auch in blauen Lernfeldern auf die realen Herausforderungen, die sie in ihrer beruflichen Zukunft im Bereich Beschaffung erwarten können.
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